Wärme für die Seele
Jeden Sonntag umsorgen Ehrenamtliche der „Aktion Brücke“ Menschen, die durch das Raster der Gesellschaft gefallen sind. Dafür fahren sie verschiedene Plätze in München an. Sie verteilen Lebensmittel, warme Mahlzeiten, Kleidung – und spenden manchmal auch Trost.

Die kleine Frau mit den grauen Haaren und dem Ringelshirt geht auf Anja Sauer zu und umarmt sie. „Ihr seid die Engel der Verlorenen“, sagt die alte Dame, in deren Gesicht die Strapazen der vergangenen Jahre ihre Spuren hinterlassen haben. Sauer, 40, schlichtes Shirt, Jeans, schluckt merklich. Ein paar Minuten später, die alte Dame ist in gebückter Haltung zu den Tischen gegangen, auf denen Lebensmittel, warmes Essen und Kleidung ausgegeben werden, sagt die Vereinsgründerin der Obdachlosen- und Bedürftigenhilfe „Aktion Brücke“: „Das sind die Momente, die mir die Tränen in die Augen treiben.“
Anja Sauer zieht an ihrer Zigarette. Der Stress. Heute ist Sonntag. Das bedeutet für sie, ihre Mitgründerin Veronika Aichinger (49) und die vielen weiteren Helferinnen und Helfer der „Aktion Brücke“: kaum eine Minute Ruhe. „Vrooooni! Anja!“, schreit ständig jemand aus irgendeiner Ecke des Nußbaumparks in der Nähe des Sendlinger Tors. Hier befindet sich eine von sechs Stationen, welche die Ehrenamtlichen jeden Sonntag bei ihren drei Touren in München anfahren. Hier, in dem Park, den die meisten Einheimischen meiden – zu viele Obdachlose, Drogenabhängige, Menschen, mit denen es das Leben nicht gut gemeint hat –, verteilen die Helfer*innen das, was jene am Rande der Gesellschaft dringend brauchen: warme Mahlzeiten, Brot, Gemüse, Obst, Kleidung, Schuhe, Zelte, Isomatten, Campingkocher, Schlafsäcke, Hygieneartikel. Aber sie bringen auch etwas anderes mit: die Bereitschaft zuzuhören, freundliche Worte, Geduld, Umarmungen.
10 034 akut wohnungslose Personen gab es laut Sozialreferat in München Ende Juli. Zum Vergleich: 2010 waren es laut Statistik der Stadt 2743 Wohnungslose. 14 Jahre später sind fast viermal so viele Menschen ohne eigenes Zuhause. Als Gründe für die extreme Steigerung nennt das Sozialreferat die Flüchtlingswellen 2015 und 2017 und den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Die Zahl der Münchner Wohnungslosen sei auf einem hohen Niveau stabil geblieben. Wichtig: Wohnungslos ist nicht gleich obdachlos. „Die Stadt München ist verpflichtet, alle wohnungslosen Menschen unterzubringen. Ohne das städtische Sofortunterbringungssystem müssten wohnungslose Personen auf der Straße leben“, schreibt das Sozialreferat. Wohnungslose kommen zum Beispiel in Beherbergungsbetrieben, Notquartieren oder auch in Wohnprojekten unter. Wer nicht in einer solchen Unterkunft wohnen will, sondern freiwillig auf der Straße lebt, zählt zu den obdachlosen Menschen in München. Hier geht das Sozialreferat laut einer aktuellen Studie von circa 340 Personen aus.

Wie hoch die Dunkelziffer bei wohnungs- und obdachlosen Menschen ist, weiß keiner ganz genau. „Manche Menschen schlafen auf der Couch von Bekannten, weil sie keine Wohnung mehr haben, und melden sich bei keiner offiziellen Stelle“, sagt Anja Sauer von der „Aktion Brücke“. Für die Ehrenamtlichen ist es nicht wichtig, woher jemand kommt oder ob sie oder er wohnungs- oder obdachlos ist. Sie kümmern sich um Menschen ohne eigenes Zuhause, Suchtkranke und auch um einige bedürfte Rentner*innen. Was diese Menschen gemein haben: Armut. „Wer zu uns kommt und Hunger hat oder wer bei kalten Temperaturen nur Sandalen trägt, dem helfen wir“, sagt Anja Sauer. Das Besondere an der „Aktion Brücke“: Die Ehrenamtlichen kommen zu den Sammelpunkten und Schlafstätten der bedürftigen Menschen.
Im Nußbaumpark steht in der Schlange der Essensausgabe ein älterer Herr im schwarzen Hemd. „Hätten Sie eine Semmel für mich, die ein bisschen weich ist?“, fragt er. „Vielen Dank!“ Zwei junge Frauen, sorgfältig geschminkt, mit Baseballcaps und in Sportklamotten sehen bei der Kleidungsausgabe die Unterwäsche durch. „Ohh! Eine Tasche“, ruft eine von beiden, als Ehrenamtliche einen Karton mit Handtaschen aus einem der Lieferwagen hieven.
„Häufig sind die jungen Menschen, die zu den Verteil-Aktionen kommen, drogenabhängig“, erzählt Veronika Aichinger. Sie hat die „Aktion Brücke“ während der Coronazeit mit Anja Sauer gegründet. Weil die beiden Frauen etwas tun wollten gegen die Armut, die es auch in so reichen Städten wie München gibt. Laut Sozialreferat ist jede sechste Person in München von Armut betroffen, das sind rund 266 000 Menschen. Von der Stadt und auch dem Staat gibt es viele Hilfsangebote. Doch manche Menschen fallen durchs Raster, andere haben nicht die Kraft, Hilfe aktiv in Anspruch zu nehmen. Sie landen dann zum Beispiel bei Anja Sauer und Veronika Aichinger. Sauer ist gelernte Arzthelferin und arbeitet im Sanitätshaus. Aichinger war früher in der Jungendstrafarbeit tätig. „Mitleid bringt unseren Gästen nichts, die Leute sind sich ihrer Situation bewusst“, sagt Veronika Aichinger.„Ich stülpe niemandem was über, aber ich bin für die Menschen da.“ Da sein, das bedeutet für Aichinger, bei Bedarf auch mit zu Ämtern, zu Ärzt*innen oder vor Gericht zu gehen. Das Vertrauen dafür zu erlangen dauert lange, erzählt sie. Aichinger gibt auch ihre Handynummer heraus, fährt manchmal nachts los, um Menschen auf der Straße zu unterstützen. „Ich lieb’ meine Leute“, sagt die Mutter von vier Kindern, eins davon ist schwerbehindert.


Um rund 1000 Menschen kümmern sich die Ehrenamtlichen jedes Wochenende in München. „Am Monatsende sind es oft ein paar Hundert Leute mehr, weil das Geld bei den Menschen knapp wird“, sagt Anja Sauer. Am Freitag und am Samstag kochen die Ehrenamtlichen des Vereins mit Sitz in Germering (Landkreis Fürstenfeldbruck) für die Touren am Sonntag, auch ehemals obdachlose Menschen sind im Team. Allein 50 Kuchen entstehen und 300 Liter Essen. Am Sonntag wärmen die Helfer*innen die Speisen auf und fahren sie aus.
Im Nußbaumpark geht es nach wie vor hektisch zu. Auch „Anderl“ und „Ernstl“ sind gekommen, um sich Lebensmittel und warmes Essen abzuholen. Sie erzählen, dass die meisten Menschen sehr dankbar über die Ausgabestelle sind. Aber immer wieder gebe es auch Bedürftige, die Streit suchten. „Auf der Straße gibt es keine Freundschaften, wenn überhaupt, dann sind es Zweckgemeinschaften“, sagt Anja Sauer. Unter den Bedürftigen komme es natürlich auch zu Konflikten. „Dann geht es um Geldschulden, Dealereien oder Revierkämpfe.“ Ein Grund, warum manche obdachlose Menschen lieber auf der Straße schlafen, als in den Übernachtungsschutz der Stadt zu gehen. Viele der Betroffenen haben auch psychische Erkrankungen. Anja Sauer: „Wir nehmen die Menschen so, wie sie sind. Wir freuen uns aber natürlich über jeden Einzelnen, dem wir helfen können, nicht mehr auf der Straße zu leben.“
Wie kann ich Obdachlosen helfen?
Viele Menschen sind unsicher: Was tun, wenn ich einen Menschen auf der Straße sehe, von dem ich nicht sicher weiß, ob er Hilfe benötigt?
Das können Sie tun:
– Suchen Sie das Gespräch.
– Zeigen Sie Respekt und verurteilen Sie nicht.
– Kaufen Sie nicht ungefragt Essen für obdachlose Personen, viele haben Angst, dieses anzunehmen.
– Um Menschen im Winter vor dem Kältetod zu schützen, rufen Sie im Notfall einen Krankenwagen.
– Alarmieren Sie auch den Notruf oder die Polizei, wenn eine Person nicht mehr ansprechbar ist.
– Wenn es kein Notfall ist: Kontaktieren Sie Menschen, die Erfahrung darin haben, Obdachlosen zu helfen – wie etwa von der „Aktion Brücke“.
– In München gibt es außerdem viele Hilfsangebote der Stadt oder auch von verschiedenen sozialen Trägern und den Kirchen, wie Übernachtungsschutz (siehe auch ab Seite 12), Essensausgabestellen und Beratungsangebote. Eine gute Übersicht liefert muenchen.de unter dem Stichwort „Wohnungslose“.
– In den kalten Monaten fährt der Münchner „Kältebus“ von 19 bis 23.30 Uhr durch München und sucht Obdachlose an ihren Schlaf- und Liegeplätzen auf. Die Ehrenamtlichen verteilen unter anderem warme Mahlzeiten, sind aber keine 24-Stunden-Nothilfe-Einrichtung. Neben dem „Kältebus“ gibt es einen „Wärmebus“ des Evangelischen Hilfswerks. Er fährt obdachlose Menschen in Unterkünfte, wenn sie das wollen.
– Wenn Sie Kleidung spenden: Geben Sie nur das ab, was Sie auch selbst tragen würden. Besonders gebraucht werden Jogginganzüge, Shirts, Unterwäsche, Rucksäcke, Schuhe, Isomatten, Zelte, Schlafsäcke, Campingkocher.
Spendenaktion für Weihnachtsessen
Die Obdachlosen- und Bedürftigenhilfe „Aktion Brücke“ organisiert nicht nur jeden Sonntag Ausgaben von Lebensmitteln, Kleidung, Hygieneartikeln und Mahlzeiten in München, sondern bietet auch immer wieder kostenlose Haarschneideaktionen für wohnungslose Menschen an. Eine dieser Aktionen in Zusammenarbeit mit dem Verein „Barber Angels“ fand Ende des Jahres 2022 im Mieterverein statt. Nun braucht die „Aktion Brücke“ Hilfe für ihre Weihnachtsfeier. Die Ehrenamtlichen möchten eine Feier für 250 bis 350 bedürftige Gäste organisieren. „Dazu gehört eine gute Bewirtung mit musikalischer Untermalung und festlicher Stimmung in freundlicher Gesellschaft“, sagt Anja Sauer, eine der Vereinsgründerinnen. Die „Aktion Brücke“ ist ein als gemeinnützig anerkannter Verein, der sich ausschließlich über Spendengelder finanziert. Wer gerne für die Weihnachtsfeier spenden möchte, kann sich unter aktion-bruecke.de informieren.
Text: Ramona Weise-Tejkl
Fotos: Astrid Schmidhuber; Lukas Barth (1)