Gerettet!
Ein Wohnhaus mitten in Haidhausen wird verkauft. Dennoch haben die Mieter*innen es geschafft, dass sie das Millionenobjekt dem Markt entziehen und ihr Haus nun selbst verwalten. Eine Erfolgsgeschichte.

So ganz langsam erst wird es real. „Allmählich macht sich ein bisschen das Gefühl bemerkbar, stolz zu sein“, sagt Ulrike Brugger. Sie steht mit Katrin Göbel in deren Laden, dem „Kokolores“, in dem sie in den vergangenen zwei Jahren so oft angesprochen wurden auf das große Ding, das sie da planen. Denn was sie geschafft haben, davon träumen viele Münchner Mieter*innen: 2022 hätte es eine Geschichte wie viele werden können und eine, die alle hier in der Nachbarschaft schon mal mitbekommen haben. Eine Geschichte, die damit beginnt, dass eine Erbengemeinschaft ein Wohnhaus verkauft, in dem Menschen seit Jahrzehnten zu günstigen Mieten wohnen, und die damit endet, dass in einem sanierten Altbau ganz andere Menschen mit ganz anderen Einkommen wohnen.
Die Geschichte der Wörthstraße 8 ist eine andere: Eine von Menschen, die sich zusammengetan haben, die andere überzeugt und mitgerissen haben und die trotz vieler Schwierigkeiten nicht aufgegeben haben. Das Haus wird fortan von den Mieter*innen selbst verwaltet, der Verein der Mietergemeinschaft ist Erbpächter für die nächsten 80 Jahre. Möglich machen das private Kreditgeber*innen, kooperative (Ex)-Hauseigentümer*innen, ein Bankkredit und die Stadt München. Bis Redaktionsschluss dieses Magazins war die Tinte zwar noch nicht trocken, es fehlten aber nur noch Formalien: ein zweiter, von der Stadtspitze zugesicherter Stadtratsbeschluss am 5. Februar und der Termin beim Notar am 18. Februar.
Sie waren bereit, für ihr Zuhause zu kämpfen
Die Menschen hier sind sehr unterschiedlich, hier wohnen Briefträger, Arzt, Schneiderin, Psychotherapeut, Rentnerpaar und Kleinkinder. Ulrike Brugger zum Beispiel lebt hier seit 1980, Katrin Göbel seit 1988, sie haben ihre Kinder hier großgezogen und den Wandel des Viertels über Jahrzehnte miterlebt. Sie waren bereit, für ihr Zuhause zu kämpfen. Aber wie? Gerade in einer Stadt wie München, gerade in Haidhausen, wie sollte das gehen?
Unterstützung kam von den Initiator*innen des Wohnprojekts Ligsalz 8, das zum Mietshäuser Syndikat gehört (siehe unten). Es entstand die Idee für eine ähnliches Modell: nämlich Direktkredite zu sammeln. Das heißt, Menschen leihen der Hausgemeinschaft ihr Geld zu günstigeren Konditionen, als Banken das täten. Diese Kredite können kurzfristig oder längerfristig vergeben werden. Die Bewohner*innen gründen einen Hausverein und eine GmbH, in denen das Geld rechtssicher verwaltet wird, und sie zahlen weiterhin Miete. Aus den Mieteinnahmen werden die Zinsen an die Kreditgeber gezahlt.
Der Kampf brachte Sympathien – deutschlandweit
Was es auf jeden Fall brauchte, war Aufmerksamkeit: Die Menschen aus der Wörth 8 trommelten analog beim Straßenfest und digital auf ihrer Website, sie verteilten Flyer und Postkarten, sie gaben Interviews, ließen Kamerateams in ihre Wohnungen, alle wurden auf ihre Weise Botschafter*innen für das Projekt. Das Motto der Kampagne war „Wird unser Haus UNSER Haus?“. Zu sehen war es unter anderem auf einer Postkarte mit einem historischen Bild des Hauses. Das Foto muss Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sein, als das Haus, Baujahr 1894, noch neu war und die Menschen in Haidhausen meist nicht sehr wohlhabend. Am Straßenrand steht ein kleines Mädchen mit einem Puppenwagen.
Dass jetzt, mehr als 100 Jahre später, Mütter, Väter, Omas und Opas versuchen, ihren Kindern und Enkeln ein Haus mit bezahlbaren Mieten zu hinterlassen, brachte Sympathien, auch weit über München hinaus. „Häuserkampf in München: Haidhausen soll leuchten“, titelte die Berliner Zeitung „taz“. Denn verglichen mit Berlin oder Hamburg gibt es in München sehr wenige solcher Syndikatsprojekte: zwei, um es genauer zu benennen. Im Sommer 2023 kündigte auch die Stadt München ihre Unterstützung an.

Das Glück der Mietergemeinschaft: Die Eigentümer*innen des Hauses, Geschwister, zeigten sich kooperativ und waren nicht ausschließlich an der maximalen Rendite interessiert. Die Schwester überschrieb ihre Hälfte einer gemeinnützigen Stiftung, der Bruder sagte zu, die Mietergemeinschaft könne seine Hälfte erwerben. Doch die Sache wurde kompliziert, da nur die eine Hälfte des Grundes der Stiftung gehörte. Zwischenzeitlich war eine Hälfte des Hauses wieder auf dem freien Markt, der Erfolg schien erneut ungewiss. Manche Unterstützer*innen sprangen auch wieder ab, weil ihnen alles zu lang dauerte.
Für die Bewohner*innen bedeutete das alles nicht nur sehr viel Auseinandersetzung mit Recht und Bürokratie, sondern auch ein emotionales Auf und Ab. Viele Feierabende und viele Wochenenden der Mieter*innen stecken in diesem Projekt. Aufgegeben haben sie nicht. Die komplizierte Lage war allerdings vielleicht auch hilfreich. Denn das halbe Haus war durch die Konstellation mit der Stiftung als Miteigentümerin für rein profitorientierte Investor*innen womöglich weniger interessant.
Auch die Stadt gab Fördergelder
Das Erfolgsmodell sieht nun so aus: Der gesamte Grund und Boden gehört der Stiftung, die Wörth8 GmbH hat einen Erbpachtvertrag für 80 Jahre, mit Option auf weitere 20 Jahre. Die Mieter*innen sind mit ihrem Hausverein Gesellschafter der Wörth8 GmbH, das heißt, das Haus gehört keinem Einzelnen. Finanziert wurde der Kauf durch fast 2,7 Millionen Euro aus Direktkrediten, durch ein Bankdarlehen und durch die Fördergelder der Stadt München.
Die Stadt gibt Geld, dafür bekommt sie im Gegenzug EOF-Belegrechte für fünf Wohnungen. Das heißt, wenn jemand auszieht, muss die Wohnung von Personen mit niedrigem Einkommen belegt werden, die berechtigt sind, in einer EOF-Wohnung zu leben. Der Hausverein kann aber die Mieter*innen auswählen. „Die Mieterinnen und Mieter der Wörth 8 haben beispielhaft gezeigt, was mit Engagement und Herzblut möglich ist“, sagt Anne Hübner, Vorsitzende der SPD/Volt-Fraktion im Stadtrat und stellvertretende Vorsitzende des Mietervereins. Die Direktkredite kamen von ganz unterschiedlichen Leuten. Anfangs vor allem von Bekannten und Freund*innen, später wurden die Kreise größer. Eine Frau gab einen sechsstelligen Betrag, sie hatte geerbt und wollte etwas Sinnvolles tun. „Wir sind dankbar für jeden Einzelnen, egal welcher Betrag das ist“, sagt Katrin Göbel.

In den Tagen vor dem Notartermin ist sie in ihrer Freude noch verhalten – so oft ist etwas dann doch anders gelaufen, als sie dachte. In ihrem Laden, dem „Kokolores“, erzählen ihr die Leute von ihren Mieterhöhungen und davon, dass sie so etwas auch gerne schaffen würden. „Viele meinen aber, ihre Hausgemeinschaft sei dafür nicht gut genug.“ Die Bewohner*innen der Wörth 8 wollen auch anderen Mut machen, das scheinbar Unmögliche zu versuchen. Sie treffen sich weiterhin jede Woche in der Küche von Bewohner Andy Ebert. Allen ist klar, dass sie jetzt vor ganz neuen Herausforderungen stehen, dass sie jetzt die Verantwortung haben für ihr Haus. Es wird demnächst damit losgehen, dass sie für eine leer stehende Wohnung die Mieter*innen auswählen. „Wir werden alle weiterhin viel dazulernen“, sagt Göbel. Und dass sie das schaffen können, daran besteht kein Zweifel – alle gemeinsam.
Mietshäuser Syndikat
Während der gesamten Planung wurde die Mietergemeinschaft der Wörth 8 unterstützt vom Mietshäuser Syndikat. Das ist ein Zusammenschluss selbst organisierter Wohnprojekte, die ähnlich finanziert sind. Zurzeit gibt es in Deutschland 193 solcher Projekte, 30 sind im Aufbau. In München gibt es nur zwei: Seit 2004 funktioniert das Prinzip in der Ligsalzstraße 8 im Westend. In der Görzer Straße 128 in Ramersdorf entsteht gerade ein Neubau. Interessierte können sich dazu beraten lassen. Infos unter: syndikat.org und ligsalz8.de.
Text: Tina Angerer
Fotos: Oliver Bodmer