Hier ist immer ein Bett frei
Der Übernachtungsschutz der Stadt München hat seit Mai ein neues Gebäude. Hierher kommen Menschen, die keinen anderen Schlafplatz finden. Woher sie kommen, wie sie hier gelandet sind und wie ihnen geholfen wird.
Die Nächte werden kälter und länger, es ist die Jahreszeit, in der immer mehr Menschen Zuflucht suchen beim Übernachtungsschutz der Stadt München. Und das ist der Ort, an dem jede*r ein Bett bekommt, weggeschickt wird niemand. Jeden Abend um 17 Uhr steht hier im Euro-Industriepark eine Schlange von Menschen an, um das Nachtquartier zu beziehen. Es wird der erste Winter für den Übernachtungsschutz an diesem Ort werden, denn das Haus in der Lotte-Branz-Straße wurde neu gebaut und im Mai dieses Jahres eröffnet. Davor waren die Menschen in der ehemaligen Bayernkaserne untergebracht, wo inzwischen neue Wohnungen entstehen.
„Wir haben die Unterbringung und Versorgung obdachloser Menschen mit diesem Neubau weiter verbessert. Wir setzen damit ein deutliches Signal als humanitäre und soziale Stadt“, sagt Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD). Träger ist das Evangelische Hilfswerk, es betreibt seit 2013 die „Schiller – Migrationsberatung Wohnungsloser“: Neben dem Übernachtungsschutz gehören dazu eine Beratungsstelle und ein „Wärmebus“, mit dem Streetworker in der kalten Jahreszeit helfen.
In dem neuen Gebäude stehen 730 Betten. Anders als in der Bayernkaserne, wo es Zimmer mit zehn und zwölf Betten gab, haben die meisten hier nur vier Betten. Zusätzlich gibt es weitere Räume für Menschen, die besonders schutzbedürftig sind oder die zum Beispiel ein Tier dabeihaben. Prinzipiell kann jede*r hier übernachten, sofern er oder sie sich an die Hausordnung hält, zu der auch ein Drogen- und Waffenverbot gehören. Wer eincheckt, braucht einen Übernachtungsschein, der sieben Tage gilt und dann verlängert wird, und mit dem auch die Fahrt zur Einrichtung per MVV möglich ist. Wer hier an der Pforte steht, wird nicht stigmatisiert oder verurteilt. Man braucht nicht zwingend einen Personalausweis. „Wenn jemand keinen Ausweis hat, helfen wir beim Gang zum Konsulat oder bei einer Verlustanzeige bei der Polizei. Irgendwann sollte es schon ein offizielles Papier geben“, sagt Andreea Garlonta, die die Einrichtung leitet.
Die einzelnen Trakte für Männer, Frauen und Familien sind in dem Gebäude getrennt – können aber flexibel belegt werden. Die Menschen, die hier schlafen, können sich von Sozialarbeiter*innen beraten, sich medizinisch versorgen oder ihre Kleidung waschen lassen. Jeden Tag müssen sie um 9 Uhr morgens ihre Zimmer wieder verlassen – erst um 17 Uhr dürfen sie dann wieder in die gereinigten Räume. „Wer nicht in die Stadt fährt, kann tagsüber hier in unserem Tagestreff bleiben“, erklärt Garlonta. Im Tagestreff werden nur Kaffee, Wasser und ein bisschen Obst angeboten. Fürs Essen fahren die meisten Klient*innen in die Stadt, wo es verschiedene Hilfsangebote und Essensausgaben gibt.
Die Herkunftsländer: Die größten Gruppen kommen aus Bulgarien, Rumänien und Deutschland
Durch das Haus mit seinen unterschiedlichen Trakten und mehreren Treppenhäusern führen Schilder mit Symbolen – denn die Sprachbarriere ist etwas, woran viele Klient*innen scheitern. Rund 3500 verschiedene Personen schlafen hier im Jahr. An der Wand im Eingangsbereich zeigt eine Landkarte mit Fähnchen, wo die Menschen herkommen. Rote Fähnchen markieren die drei Länder, aus denen die größten Gruppen stammen: Bulgarien, Rumänien und Deutschland. Die Hauptzielgruppe der Einrichtung sind wohnungslose Menschen, die in Deutschland keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben, überwiegend aus dem EU-Ausland. „Das sind meistens Menschen, die wegen eines Jobs nach Deutschland kommen, dann den Job verlieren oder keine ordentlichen Arbeitsverträge bekommen“, sagt Garlonta. Die Menschen arbeiten oft im Niedriglohnsektor, nehmen, was sie kriegen können, und kennen das deutsche Arbeitsrecht nicht. „Wir erleben es häufig, dass die Leute einen Job anfangen und ihnen gesagt wird: ‚Du bist in der Probezeit, erst danach bekommst du einen Vertrag.‘“ Oder es wird ihnen immer wieder vor Ablauf der Probezeit gekündigt und sie werden durch andere Arbeitskräfte ersetzt. Garlonta berichtet auch von Männern, die am Bau arbeiten, einen Unfall haben und dann sofort den Job verlieren. Es kommen mehr Männer zum Übernachtungsschutz als Frauen. Auch einen Bereich für Familien gibt es hier, sie machen aber keinen sehr großen Anteil aus, weil für Familien auch andere Einrichtungen existieren.
Ungefähr 80 Prozent der Menschen im Übernachtungsschutz sind im arbeitsfähigen Alter, rund 50 Prozent arbeiten. Für sie gilt es, Perspektiven aufzubauen. Deswegen ist die Beratung auch so wichtig. „Wir beraten in zehn Sprachen und helfen bei der Bürokratie“, sagt Garlonta. Die Erfahrung zeigt aber leider auch, dass viele Klient*innen, die auf dem Arbeitsmarkt der Sub-Sub-Sub-Unternehmen unterwegs sind, Angst haben, auf ihren Rechten als Arbeitnehmer*innen zu bestehen, oder den Job verlieren, wenn sie sich wehren. Dennoch: Mehr als die Hälfte der Menschen, die hier schlafen, sind nach einem Monat wieder weg. Für Garlonta sind das Erfolge. „Wir gehen davon aus, dass jemand, der nicht mehr wiederkommt, etwas Besseres gefunden hat.“ Etwas Besseres bedeutet zum Beispiel eine andere Unterbringung durch das Wohnungsamt. Rechtlich kann jede*r, der oder die in Deutschland Anspruch auf soziale Leistungen hat, sich bei Wohnungslosigkeit ans Wohnungsamt wenden. Die Stadt hat viele Hilfen parat, auch die Unterbringung in anderen Unterkünften wie Pensionen für Wohnungslose – die Betroffenen zahlen dann von ihrem Gehalt etwas dazu. Den Anspruch auf solche Leistungen haben alle deutschen Staatsbürger*innen. EU-Ausländer*innen werden anspruchsberechtigt, wenn sie längere Zeit hier gearbeitet haben. Der Weg raus geht also über Jobs, die stabil gehalten werden.
Rund die Hälfte derer, die im Übernachtungsschutz schlafen, hätte eigentlich die Möglichkeit, zum Wohnungsamt zu gehen. Weil sie zum Beispiel deutsche Staatsbürger*innen sind oder schon länger in Deutschland gearbeitet haben. Das scheitert dennoch oft: Weil die Menschen die nötigen Unterlagen nicht haben oder ihre Jobs zu schnell wieder verlieren. Auch psychische Erkrankungen und Alkoholkrankheit machen für viele den Weg zurück in ein anderes Leben schwer oder unmöglich. Auch bei vielen Älteren gibt es kaum Perspektiven. Manche kommen daher auch über Jahre hierher zum Schlafen. Zum zehnjährigen Bestehen von „Schiller“ haben die Mitarbeiter*innen auch derer gedacht, die im Übernachtungsschutz gestorben sind. An der Wand hängt eine Liste mit den Namen der Verstorbenen. Das Sozialreferat der Stadt hat in diesem Jahr die Studie „Obdachlose Menschen auf der Straße“ vorgestellt. Demnach leben rund 340 Menschen auf der Straße. Auch hier sind ein sehr hoher Anteil Menschen aus dem EU-Ausland. Zwei Drittel der Obdachlosen nutzen demnach kein Übernachtungsangebot der Stadt. Etwa weil sie sich nicht sicher fühlen in einer Einrichtung. Auch deswegen ist Sicherheit ein wichtiger Faktor. Security-Personal ist präsent und auf Deeskalation geschult, oftmals beherrschen die Security-Mitarbeitenden auch andere Sprachen. In jedem Zimmer gibt es Spinde, in die Sachen eingeschlossen werden können, in einem separaten Raum kann größeres Gepäck zwischengelagert werden. Die Streetworker von „Schiller“ werben auf der Straße für den Übernachtungsschutz im neuen Haus. Denn für sie zählt jeder einzelne Mensch.
Text: Tina Angerer
Fotos: Lukas Barth