Das ist unser Zuhause

Das Haus, in dem Ulrike Brugger seit 43 Jahren wohnt, wird verkauft. Die Mieter*innen wollen das Haus gemeinschaftlich erwerben – und brauchen Hilfe

Wenn Ulrike Brugger auf ihrem Balkon sitzt – neben sich den kleinen rosa Tisch mit den Kräuter- und Blumentöpfen – und über den grünen Innenhof hinweg über die Dächer schaut, dann ist sie einfach nur dankbar: „Dann denk ich mir: Mehr braucht man nicht.“ Als sie zum ersten Mal dort saß, da war sie Anfang 20, der Hof war noch kahl. 43 Jahre ist das her, damals zog die gebürtige Münchnerin als Studentin vom Waldfriedhof in die Wörthstraße 8 nach Haidhausen.

Heute, ein halbes Leben später, kämpft sie mit den anderen Mieter*innen darum, das Haus gemeinsam kaufen zu können – mithilfe des Mietshäusersyndikats und mithilfe von Menschen, die ihr Geld einem Projekt leihen, das dauerhaft bezahlbaren Wohnraum sichern will. Das stemmt sich gegen den Ausverkauf, gegen Luxussanierung, gegen die angeblich unverrückbaren Gesetze des Marktes in einem Viertel, das inzwischen zu den teuersten der Stadt gehört. Ulrike Brugger ist keine naive Frau, sie weiß, dass es für sie schlicht darum geht, ob sie und ihr Mann bleiben können in der Wohnung, in der sie so viel erlebt haben. „Das klingt vielleicht pathetisch“, sagt die 67-Jährige. „Aber diese Wohnung ist unsere Heimat, das ist unser Zuhause.“

Als Ulrike Brugger 1980 einzog, wurde sie gewarnt: Haidhausen war damals Glasscherbenviertel, viele Altbauten waren heruntergekommen, manche noch immer vom Krieg beschädigt, Industriebaracken, dazwischen schäbige Behelfsbauten, es gab den Gasteig noch nicht, nicht die Muffathalle. Die Stadt München hatte damals gerade eine umfassende Stadtteilsanierung für Haidhausen angeschoben. „Vor der Kneipe bei uns gegenüber gab es jedes Wochenende Schlägereien“, erinnert sich Brugger. Sie studierte damals Kunst, zog mit einer Freundin und einem Freund in die Dreizimmerwohnung im vierten Stock ein. Da sie in der Küche Platz für einen großen WG-Tisch brauchten und das Bad so geräumig war, stellten sie den WG-Kühlschrank ins Bad. Diese Tradition ist bis heute geblieben. „Ich könnte mir gar nicht vorstellen, dass ein Kühlschrank woanders steht, als im Bad“, sagt sie und lacht.

Nach sieben Jahren löste sich die WG auf, Ulrike Brugger wurde Hauptmieterin, zwei Jahre später zog ihr späterer Mann Günther ein. Zwei Kinder bekamen sie, die heute 30 und 27 Jahre alt sind. Die Familie erlebte die Veränderungen im Viertel. Immer weniger alte Leute, immer weniger einfache Leute, dafür kamen Gutverdienende, schicke Bars und teure Restaurants. „Als ich mit meinem zweiten Kind im Viertel unterwegs war, dachte ich mir schon manchmal: Jetzt musst du dich aber gut anziehen, wenn du auf den Spielplatz gehst.“

Auf großem Fuße lebte die Familie nie, Ulrike Brugger illustrierte Bücher, seit 17 Jahren arbeitet sie im Schreibwarenladen „Kokolores“, der im Erdgeschoss des Hauses ist, ihr Mann hat einen Plattenladen. Die Wohnung ist einfach, geheizt wird mit alten Gasöfen, der Speicher direkt über der Wohnung ist schlecht isoliert, das merkt Brugger im Winter deutlich. Die Familie nahm das aber gern in Kauf. „Wir hatten nie ein hohes Einkommen, und wir wissen, dass wir großes Glück gehabt haben, dass die Miete über Jahre so niedrig blieb“, sagt sie, und fast klingt es, als würde sie sich dafür entschuldigen, dass es dem Hauseigentümer nicht um die größtmögliche Rendite ging, sondern um eine nette und beständige Hausgemeinschaft. 

Die Hausgemeinschaft, so erzählt Brugger, war immer etwas Besonderes. Gemeinsam bepflanzte man den heute üppig grünen Innenhof, feierte Hoffeste, die Kinder wuchsen miteinander auf. Die Bewohner*innen der 13 Wohnungen sind eine bunte Mischung – vom Briefträger bis zum Arzt, von der Schneiderin bis zum Psychotherapeuten, vom Rentner bis zum Baby. Seit der Nachricht im Sommer 2022, dass das Haus verkauft werden soll, ist viel passiert. Nach dem ersten Schock entwickelten die Mieter*innen die Idee, das Haus quasi gemeinsam zu kaufen – als Projekt des Mietshäusersyndikats, gemeinsam verwaltet. Das Gute: Die Eigentümer, zwei Geschwister, sind kooperativ. Die Schwester hat ihre Hälfte bereits an eine gemeinnützige Stiftung gegeben, die über einen Erbpachtvertrag die Nutzung durch die bisherigen Mieter*innen ermöglicht.

«Die Mieter*innen haben gezeigt, was mit Engagement und Herzblut möglich ist»

Die andere Hälfte müssten die Bewohner*innen für insgesamt 5,25 Millionen Euro kaufen. Das geht nur über Direktkredite (siehe Infokasten). Das Gebäude ist inzwischen aber auch auf dem freien Markt, das heißt, der Traum kann jeden Moment zu Ende sein. Das Projekt war in der Zeitung und im Fernsehen, es gab viel Zuspruch, auch von Leuten aus dem Viertel. Die sehen, dass wenige Meter weiter, am Johannisplatz, gerade ein Haus abgerissen wurde und ein neues gebaut wird. Rund 1,1 Millionen Euro kostet dort eine 39-Quadratmeter-Wohnung. Ein Briefträger wird dort schon mal nicht einziehen.

Im August sagte die Stadt München Unterstützung zu: Auf Initiative der SPD/Volt-Fraktion beschloss der Stadtrat gegen die Stimmen von CSU, FDP und Freien Wählern ein innovatives Fördermodell: Die Mieter*innen bekommen eine Art Kredit, im Gegenzug bekommt die Stadt Belegrechte für fünf Wohnungen für einen Zeitraum von 80 Jahren und die Garantie, dass die Miete zehn Prozent unter dem Mietspiegel bleibt. Wenn eine Wohnung frei wird, zieht jemand ein, der Anspruch auf geförderten Wohnraum hat. Bis dahin zahlt die Hausgemeinschaft einen Teil des Geldes ab. „Dass wir als Stadt jetzt spürbar unterstützen können, ist ein großer gemeinsamer Erfolg. Die Mieterinnen und Mieter der Wörth 8 haben beispielhaft gezeigt, was mit Engagement und Herzblut möglich ist“, sagt Fraktionsvorsitzende Anne Hübner (SPD).

„Wir freuen uns sehr über diese Zusage“, sagt Ulrike Brugger. Doch noch reicht das Geld nicht, bis Redaktionsschluss Mitte September fehlte noch rund eine Million Euro. Brugger gibt die Hoffnung aber nicht auf. „Wir machen weiter, bis wir am Ziel sind.“


So können Sie helfen
Das Mietshäusersyndikat (MHS) ist ein solidarischer Zusammenschluss von selbst organisierten Wohnprojekten. Zurzeit gibt es deutschlandweit 186 Syndikate, 18 weitere sind im Aufbau. Besonders verbreitet sind solche Projekte in Freiburg und in Berlin. In München gibt es derzeit zwei: Seit 2004 funktioniert das Prinzip in der Ligsalzstraße 8 im Westend. Und in der Görzerstraße 128 in Ramersdorf entsteht gerade ein Neubau. Die Häuser werden dauerhaft dem Immobilienmarkt entzogen, in Gemeinschaftseigentum verwandelt und selbstverwaltet, rechtssicher organisiert mit einer GmbH und einem Haus-Verein. Finanziert werden die Projekte über Direktkredite. Das ist auch der Weg, wie Sie zum Beispiel die Wörthstraße 8 unterstützen könnten. Direktkredit bedeutet: Menschen leihen dem Hausprojekt ihr Geld zu frei verhandelten Konditionen, meist mit niedrigeren Zinsen, als es eine Bank machen würde, entweder langfristig oder mit kürzerer Laufzeit. Zinsen werden aus den Mieteinnahmen bezahlt. Läuft ein Direktkredit ab, muss er durch einen neuen ausgetauscht werden. Für die Wörthstraße 8 kann man online eine Absichtserklärung für einen solchen Direktkredit abgeben. Alle Infos zur Wörthstraße 8, dem Konzept und den Risiken für Kreditgeber*innen finden Sie hier: woerth8.de, weitere Infos zum Prinzip Mietshäusersyndikat und den anderen Projekten in Deutschland: syndikat.org

Text: Tina Angerer
Fotos: Astrid Schmidhuber

 
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