Wie viel Raum braucht der Mensch?

Wohnraum ist begehrt. Doch wie viele Quadratmeter braucht jeder Einzelne von uns für ein glückliches Leben? Wir dokumentieren drei ganz unterschiedliche Mietverhältnisse in München und der Region.

15 m² – Mini-Wohnen

Dießen am Ammersee. Geplant war die Sache mit der Mini-Wohnung nicht. Ingrid P., Landschaftsarchitektin, kann immer noch staunen über diese Entwicklung. An deren Anfang ein Mietshaus stand, 120 Quadratmeter Fläche zum Ausbreiten. Das Haus war Wohn- und Lebensraum für sie und ihren damaligen Partner, mit dem sie eine Firma für Landschafts- und Gartenbau betrieb. All das verbunden mit viel Arbeit, wenig Zeit und dem Gefühl, dass man gar nicht alle Räume nutzen kann, ehe sie wieder einstauben. Und man von vorne anfängt mit dem Putzen.

„Ich habe einen Stapel gemacht von den Dingen, die ich weggeben wollte“

Brauche ich das wirklich? Diese Frage stellte sie sich zu Beginn. „Auf eine Salatschleuder kann ich zum Beispiel gut verzichten“, sagt P. und lacht. „Ohne meine Espressokanne aber möchte ich nicht leben.“ Nach einer Zeit des konsequenten Aussortierens stellte sie fest: Wirklich nötig war nur ein Fünftel ihrer Besitztümer. „Ich habe dann den Stapel gemacht von den Dingen, die ich weggeben wollte. Bücher, Geschirr, Kleidung: Die Kinder meiner Nachbarn, die gerade ihren ersten eigenen Hausstand gründeten, haben vieles davon genommen.“

Als ihre Beziehung endete, suchte sie 2016 zunächst einen Ort, an dem sie ihre wenigen Habseligkeiten zwischenlagern konnte. Und fand ihn über eine Bekannte, in Form eines ehemaligen Büroraums, 150 Meter entfernt vom Ufer des Ammersees. 15 Quadratmeter mit einer Empore zum Schlafen, gebaut vom Vormieter. Plus ein schmaler Sanitärraum mit Toilette und Waschbecken. Dusche gab und gibt es keine. „Ich weiß, da scheiden sich die Geister“, schickt die 49-Jährige voraus. „Viele empfinden Duschen auch als Genuss, nutzen es zum Runterkommen.“ Doch: „Mir fehlt das nicht. Zum Waschen reicht mir das Becken. Und zum Entspannen gehe ich in die Sauna.“

„Ich wollte nicht mehr so viel für meine Miete arbeiten“

Rund 1000 Euro kalt hatte sie gemeinsam mit ihrem Freund für das alte Mietobjekt gezahlt. Jetzt fielen nur noch 150 Euro monatliche Kosten an. Ingrid P. realisierte: Weniger Mietkosten heißt mehr persönliche Lebenszeit.

„Ursprünglich war das für mich die Hauptmotivation: Ich wollte nicht mehr so viel für meine Miete arbeiten.“ Sie sprach sich mit der Vermieterin ab und zog ganz dort ein, wo einmal ein Büro war. So konnte sie ihre Arbeitszeit auf 20 Stunden die Woche verringern und ihren persönlichen Besitz reduzieren. Für sie bedeutet das Freiheit. Und das bis ins Detail: „Man muss doch beispielsweise nicht ganze Jahr Geschirr vorhalten für zwei große Feste. Vier Teller daheim reichen. Wenn ich etwas zu feiern habe, gehe ich heute ins Restaurant. Und genieße es, mich nicht um den Abwasch kümmern zu müssen.“

Worauf es beim Minimalismus ankommt

Was für sie am erstaunlichsten war: die positive Resonanz auf ihren Minimalismus. „Viele interessieren sich dafür, so klein zu wohnen.“ Essenziell sei dafür eine schöne Umgebung und ein gutes Sozialleben. „Die Seepromenade ist für mich wie ein erweiterter Wohnraum. Und ich genieße das kleinstädtische Umfeld hier sehr.“ Mittlerweile ist sogar eine eigene Tausch-Community in der Nachbarschaft entstanden, frei nach dem Motto: deine Badewanne, mein Kuchen. Oder auch: eine Ladung Wäsche waschen gegen Hilfe bei der Steuererklärung.

Die Krönung dieser Wohnform wäre für Ingrid P. ein Tiny House. „Leider gibt es so viele Ängste gegen diese Bewegung. Dabei sind das ganz bodenständige Menschen.“ Menschen wie sie selbst. Die einfach wohnen wollen und leben. Und nicht fürs Wohnen ihr Leben opfern.

170 m² – Maxi-Platz

Schäftlarn. Wiesen und Bergblick, freistehende Häuser, prächtige Gärten: Hier leben Dagmar B. (65) und ihr Mann Hans-Peter (68), zwei Menschen mit einer gemeinsamen Biografie, die bis in die 1960er-Jahre zurückreicht. Seit ihrer Schulzeit in Solingen kennen sich die zwei. Gemeinsam sind sie nach Bayern gezogen, hier sind ihre Kinder geboren und aufgewachsen. Er hat als Chemiker für einen Industriekonzern gearbeitet, sie, promovierte Biologin, war unter anderem in der Forschung tätig und hat einen bundesweiten Schülerwettbewerb koordiniert.

„Unsere Mietwohnungen waren immer so gut, dass wir uns mit Eigentum nicht verschlechtern wollten“

Heute, als Rentner, schenken sie ihre Zeit anderen: Er unterrichtet Geflüchtete, sie kümmert sich um Hospizbewohner. Würde man das Ideal einer Bildungsbürgerfamilie umreißen, kämen die beiden ihm sehr nahe – kulturelles Kapital war ihnen stets wichtiger als wirtschaftliches. „Wir kommen aus den Ausläufern der 68er-Bewegung“, sagt sie. „Da wollte man kein Eigentum. Da wollte man frei sein.“

Ihr ganzes Leben sind sie überzeugte Mieter gewesen. Bis zu jenem Punkt vor zehn Jahren, wo sie erstmals mit Eigentum liebäugelten. Mit einem Ort zum Bleiben, ohne Furcht vor Mietenexplosion und Eigenbedarfskündigung. Doch da waren die Preise am Markt schon zu hoch. Oder der eigene Anspruch, je nach Betrachtung. „Unsere Mietwohnungen waren immer so gut, dass wir uns mit Eigentum nicht verschlechtern wollten“, sagt er. „Außerdem machen wir nicht gerne Schulden. Mit einem Hauskredit bindet man sich existenziell.“

„Wir leben in einer Vereinzelungsarchitektur“

So wohnen sie weiter zur Miete. Und das mehr als komfortabel, nämlich auf zweieinhalb Etagen und 170 Quadratmetern, in einem Haus mit bodentiefen Fenstern und Ausblicken in den umlaufenden Garten, auf den Walnussbaum, die Tomatenstauden, die Hortensienbüsche. Es ist ein Ort mit viel Platz – für Arbeitszimmer und Gästebetten, für ein Klavier, einen Billardtisch, gesammelte Erinnerungen der Jahrzehnte. Weshalb er hier auch gar nicht wegwill – sie aber schon. Zu groß sei all das, meint Dagmar B. Und die Miete, knapp 2000 Euro warm, auch zu viel. „Mein Gefühl ist, dass wir über unsere Verhältnisse leben“, sagt sie. Er sagt: „Wir leisten uns den Luxus der relativ hohen Miete, wir lieben das Dorf und wollen unsere sozialen Kontakte im Ort behalten.“ Was sie umtreibt, ist die fehlende Gemeinschaft, die aus Häusern wie ihrem entsteht: „Wir leben in einer Vereinzelungsarchitektur.“

Tatsächlich würde in dem Haus des Ehepaars keine WG funktionieren: Es gibt nur einen Eingang, nur eine Küche, keine Möglichkeiten, zwei separate Leben unter ein Dach zu bringen. Ein Wohnkomplex, wo jeder für sich eine Wohnung hat, mit Gemeinschaftsgarten, mit gemeinschaftlich genutzten Werkstätten – dafür würden sie glatt noch mal umziehen. Sich auch verkleinern. Sagt sie. Er ist da eher zurückhaltend. Grund: die hohen Mieten bei einem Umzug derzeit. Für eine kleinere Wohnung würde das Paar nicht unbedingt weniger bezahlen. In einem sind sie sich einig: „Ein Haus ist kein Wert an sich. Der Wert entsteht erst durch die soziale Gemeinschaft.“

70 m² – Mittendrin

München. Noch einmal Ortswechsel, hinein nach München. Die Schleißheimer Straße beginnt in der reichen City und zieht sich auf acht Kilometern bis dorthin, wo der ärmere Teil der Bevölkerung wohnt. Irgendwo in der Mitte dieser Gegensätze leben Nora K. (30) und Dominik M. (31). In einer Zweizimmerwohnung mit Wohnküche und Balkon, Erstbezug nach Sanierung, rund 1100 Euro warm. Seit sieben Jahren sind die zwei ein Paar. Lange genug haben sie in einer Fernbeziehung gelebt. Sind erst zwischen Frankfurt und Berlin gependelt, dann zwischen Berlin und München, haben viel im Zug gelebt und Aufenthalte in Südafrika und Spanien mit Skype überbrückt.

Wohnungssuche: „Wir haben echt Glück gehabt“

2018 sind sie in München angekommen, in ihrer ersten gemeinsamen Wohnung, und das mit einer Überraschung: „Wir konnten uns zwischen mehreren Angeboten entscheiden.“ Als junges Paar mit unbefristeten Arbeitsverträgen – sie arbeitet bei einer Versicherung, er für einen Fernsehsender – hat man offenbar auch in München noch Chancen auf eine Wohnung? „Wir haben echt Glück gehabt“, sagt Dominik M. dazu bescheiden.

Bescheiden waren sie auch bei der Einrichtung. Soviel wie möglich haben sie aus Altbeständen übernommen. Die Küchenzeile etwa fand über eine Kleinanzeige den Weg zu ihnen, 240 Euro für Selbstabholer. Oder die Waschmaschine: Die haben sie an einem heißen Sommertag für 50 Euro aus einer Verkäuferwohnung heraus und in ihr Leihauto hineingewuchtet. Die Mikrowelle haben sie auf der Straße gefunden, der ausziehbare Tisch im Wohnzimmer wiederum stammt aus einer Haushaltsauflösung. Er ist heute eines der wichtigsten Möbelstücke in der Wohnung. Denn an ihm finden regelmäßige Spieleabende statt.

Ein- bis zweimal in der Woche bekommt das Paar Besuch von Freunden, zusammen wird gekocht, gespielt, gelacht. Ausreichend Platz dafür zu haben, das genießen Nora K. und Dominik M. an ihrem Zuhause. Überhaupt, der Platz: Ihr Klavier hat auf den 70 Quadratmetern ebenso Raum gefunden wie seine Filmplakate. Ein Zuhause eben, mit Nachbarn, die man kennt, die auch mal Blumen gießen. Eine Wohnung wie diese ist ein Zuhause, ein guter Ort zum Sein. Auch wenn es irgendwann mal ein Zimmer mehr sein könnte.

So viel Platz hat der Mensch zum Leben – in München

Die Fläche, auf der sich Menschen in den eigenen vier Wänden ausbreiten können, ist in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten stetig angestiegen. Hatte im Jahr 1991 jeder Einwohner im Schnitt 34,9 Quadratmeter zur Verfügung, waren es 2014 schon 46,5 Quadratmeter. Bleibt man bei diesem Vergleich, ist München in den 1990ern stehen geblieben: Hier liegt die Pro-Kopf-Wohnfläche nach den Zahlen des städtischen Planungsreferats zwischen 26,6 (Milbertshofen-Am Hart) und komfortablen 44,8 Quadratmetern (Altstadt-Lehel). Der Durchschnitts-Münchner wohnt in einem Haushalt mit 1,8 Personen und auf 39 Quadratmetern pro Kopf. Doch Quadratmeter sind nur ein Wert, der Wohnqualität ausmacht, soziales Miteinander ein anderer. Deshalb noch eine Zahl: Immer mehr Senioren über 75 Jahren leben in München allein. Ihr Anteil an Einpersonenhaushalten (gut die Hälfte aller Haushalte in München zählt dazu) liegt bei 12,9 Prozent, 2011 waren es noch knapp neun Prozent.

Fotos: Jana Erb

Text: Andrea Mertes

 
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