Gruß aus einer vergangenen Zeit

In der Nockherstraße werden die denkmalgeschützten Herbergshäuser erhalten. Wenige Meter weiter wandelt sich durch die Bebauung des ehemaligen Paulaner-Geländes das ganze Stadtviertel

Wer bei Andreas Stiller auf dem Balkon steht und runterblickt auf die niedrigen Dächer gegenüber und entlang der leicht gekrümmten Straße am Hang, der blickt fast in eine vergangene Zeit. Die modernen Autos lassen erahnen, in welchem Jahr wir uns befinden – und weil München eben München ist, sind die meisten der denkmalgeschützten Häuser auch sehr gut hergerichtet, es wird immer wieder renoviert in der Nockherstraße.

Denn was vor hundert Jahren noch eine Arme-Leute-Gegend war, ist heute ein unverwechselbares Idyll mitten in der Stadt. Andreas Stiller, aufgewachsen in Westberlin, kam im Jahr 2007 mit seiner damaligen Frau aus beruflichen Gründen nach München. „Damals war es schon nicht so leicht, eine Wohnung in München zu finden, aber wir hatten Glück und haben nicht lange gesucht“, erzählt Stiller. „Wir fanden die Wohnung in einem ganz kleinen Inserat in der Zeitung. ,Wohnung in der Au‘ stand da. Wir mussten erst mal nachschauen, wo die Au überhaupt ist.“

Einige Mietshäuser in der Straße waren damals in schlechtem Zustand. Die Nummer 56, in der Stiller wohnt, war von einem Immobilienentwickler aufgekauft worden und kernsaniert. Das Ehepaar zog in die knapp 70 Quadratmeter große Wohnung ein. Stiller erlebte vor 16 Jahren also noch die Zeit, in der die Au zwar schon mehr und mehr „aufgewertet“ wurde, sich aber noch deutlich abhob von den schickeren Vierteln.

Der Ruf der Au war schlecht 

Damals gab es noch den alten Geruch der Au, der vom Paulaner-Gelände herüberzog, der malzige Geruch, der schon im Juni von der bevorstehenden Wiesn erzählte. „Im Viertel war es relativ ruhig, es gab wesentlich weniger Gastronomie“, erinnert sich Stiller. Die Humboldtstraße war eine „Wüste“, wie es Stiller nennt, daneben lag das Boazn-Eldorado Untergiesing. Die Menschen in der Au, auch die Jüngeren, grenzten sich damals noch deutlich ab: Es gab „droben“, damit war das durch-gentrifizierte Haidhausen gemeint. Und „drüben“, das war das schrille, laute Glockenbachviertel mit seinen Partypeople, denen die Leute in der Au womöglich etwas zu bodenständig vorkamen. Da die Au im Zweiten Weltkrieg stark zerbombt worden war, gibt es hier weniger Altbau als beispielsweise in Haidhausen. Auch das schützte die Gegend lange Zeit vor allzu viel Interesse der Gutbetuchten und deren Immobilienmaklern.

Die kleinen Häuser der Nockherstraße, die Stiller auch von seinem Balkon sehen kann, stammen aus der Zeit, als die Au noch gar nicht zu München gehörte. In den Herbergshäusern, die im damaligen Überschwemmungsgebiet der Isar gebaut wurden, wohnten die Tagelöhner, die in der Stadt nicht übernachten durften, und die Dienstboten, die sich für wenig Geld abschufteten. Was heute malerisch aussieht und gut isoliert ist, das waren damals einfachste Unterkünfte, in denen sich viele Menschen wenig Wohnraum teilten. Der Ruf der Au war schlecht. Es gibt die Anekdote von einem Henker in Wien, der dachte, die Au müsse eine riesengroße Stadt sein, weil so viele Täter von dort stammten. Das ehemalige Paulanerkloster Neudeck reüssierte als Zuchthaus, was auch nicht zur Reputation der Gegend beitrug.

Im Jahr 1854 wurde die Au eingemeindet. Ein berühmter Sohn der Au ist Karl Valentin, der 1882 in der heutigen Zeppelinstraße geboren wurde. In Valentins Geburtshaus ist der Verein „Freunde der Vorstadt Au“ beheimatet, der die Geschichte der Viertels wach hält und auch das Gefühl, dass man „Vorstadt“ ist – abgesondert und besonders. Karl Valentin hatte auch eine große Menge an Fotos und Postkarten gesammelt und so die Geschichte des Viertels dokumentiert. Der Autor Peter Klimesch, der selbst in der Nockherstraße wohnt, hat sogar ein ganzes Buch nur über die 500 Meter lange Straße geschrieben. Nach der Eingemeindung entstanden auch in der Nockherstraße hangabwärts einige Mietshäuser – in einem davon wohnt Andreas Stiller. Das Haus wurde 1910 erbaut. Aber auch Landwirtschaft und Industrie gab es, eine Sauerkrautfabrik zum Beispiel, und bis 1979 auch noch einen Geflügelhof.

Wenn man in der Au mit Leuten spricht, sagen viele das Gleiche: Sie lieben das Dörfliche hier. Auch Andreas Stiller mag das, er spielt im „Theater in der Au“ als Laienschauspieler mit, und er freut sich, dass auf dem Grundstück bei ihm gegenüber noch kleine Schuppen stehen, in denen seine Nachbar*innen als Autoschrauber und Bastler ihre Leidenschaften ausleben können. Benannt ist die Straße am Hang nach einer Bankiersfamilie, die im 18. Jahrhundert hierher kam. Beim Spaziergang durch die Straße tickt die Uhr ein bisschen langsamer, hier zählt das Detail, kleine verwinkelte Innenhöfe, verschnörkelte Geländer und immer wieder schmale Treppen, die den steilen Hang hinaufführen.

Seitdem die Paulaner-Brauerei ihr Gelände verkauft hat, hat sich das Viertel stark verändert. Der Käufer, die Bayerische Hausbau, muss auch bezahlbaren Wohnraum schaffen und die Infrastruktur wie Kitas mitfinanzieren – dazu wird ein Investor von der Stadt verpflichtet, wenn ein Gewerbegebiet in Wohnraum umgewandelt und neu bebaut wird. 1500 Wohnungen in der Au und im angrenzenden Haidhausen, ein Megaprojekt, innenstadtnah inmitten von gewachsenen Strukturen.

Es gibt jetzt neue Einkaufsmöglichkeiten, Gastronomie, eine zusätzliche Grundschule– aber es riecht jetzt auch nach Geld in der Au. Das gesamte Projekt polarisiert noch immer die Bürger*innen. Denn natürlich entstand am Bierberg auch jede Menge Luxus-Wohnraum, „Hoch der Isar“ heißt das dann und bietet gute Ausblicke für Millionär*innen. Die Preise, die die Bayerische Hausbau für die Sahnestücke am Nockherberg aufrufen konnte, hatten nichts zu tun mit dem Selbstverständnis der Menschen hier. „Ich merke vor allem, dass mehr Menschen im Viertel unterwegs sind“, sagt Stiller. Wenn er früher im Kronepark, ein Stückchen hangaufwärts, laufen war, war er oft allein, heute ist es dort sehr belebt.

«Hier ist es immer noch ruhig, wir kriegen vom Trubel im Viertel nicht viel mit»

In seiner Straße selbst, da weht der neue Wind dank der denkmalgeschützten Häuser eher langsam. „Hier ist es immer noch ruhig, wir kriegen vom Trubel im Viertel nicht viel mit“, sagt er. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit den alten Herbergshäusern gibt es nur noch wenige Mieter*innen, die meisten Häuser werden von den Eigentümer*innen bewohnt. In Stillers Haus sind rund 80 Prozent der Wohnungen vermietet, der Rest wird von Eigentümer*innen bewohnt. Im Haus gibt es eine gute Gemeinschaft, man trifft sich im kleinen grünen Innenhof.

Das Haus mit seinen alten Fliesen im Treppenhaus ist sehr gut erhalten, alle Bewohner*innen haben die gleichen goldenen Klingelschilder an der Tür. Davon, dass das Haus denkmalgeschützt ist, bemerkt Stiller ansonsten wenig.

Stillers Vermieter ist ein Privatmann, der auch Kinder hat. Es kann sein, dass Stiller irgendwann eine Eigenbedarfskündigung droht. Kürzlich bekam er eine Mieterhöhung, er zahlt zurzeit 1320 Euro Warmmiete. Viel mehr darf es für ihn auch nicht mehr werden. Stiller betont aber, dass er ein sehr gutes Verhältnis zum Vermieter hat, was gerade bei allfälligen Reparaturen Vieles erleichtert.

Er wohnt inzwischen alleine, früher hat er zusätzlich zu seiner Arbeit als Künstler in Teilzeit gearbeitet. Seit der Pandemie arbeitet er Vollzeit als Trambahnfahrer – er kennt München also inzwischen auch von Berufswegen sehr gut. „Die Lage hier ist einmalig. Deswegen werde ich so lange hier blieben, wie es nur möglich ist.“

Andreas Stiller ist auch Maler und Bildhauer, hier hat er ein Motiv aus der Dia-Sammlung seiner Familie mit Acrylfarben fotorealistisch dargestellt. Weitere Infos und Bilder unter andreasstiller.com und singulart.com

 

 

 

Text: Tina Angerer
Fotos: Lukas Barth

 
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