Hoffen auf eine Zukunft in Frieden

Auf der Flucht vor russischen Bomben: Ukrainerin Anastasia wohnt mit Oma, Mutter, Schwester und Tante in einem Haus, das abgerissen werden sollte

Libertà, Freedom, Frihet, Svoboda… in Weiß stehen die Begriffe auf dem blaugelben Hintergrund, sie bezeichnen in vielen Sprachen immer das Gleiche: Freiheit. Etwas abgesetzt weiter unten steht Freiheit auch auf Ukrainisch, nur da sind die Buchstaben rot, rot wie Blut. Das Bild steht auf dem Regal im Wohnzimmer in der Wohnung in Perlach. Gemalt hat es die 19-jährige Anastasia. Im März ist die junge Ukrainerin nach München gekommen, zusammen mit ihrer achtjährigen Schwester Katerina, ihrer Mutter Lena, ihrer Oma Ludmilla und ihrer Tante Maria. Die fünf Ukrainerinnen leben in Perlach in einem Haus, das zu Beginn des Krieges leer stand, weil es abgerissen werden sollte. Die Eigentümer haben die beiden Wohnungen für Geflüchtete zur Verfügung gestellt. „Wir sind sehr dankbar, dass wir hier sein dürfen“, sagt Anastasia, die in der Schule Deutsch gelernt hat. Sie leben nun zu fünft auf 85 Quadratmetern und haben einen großen Garten. „Das ist wirklich großartig.“

Wenn Anastasia von früher erzählt, sagt sie: „Ich liebte mein Leben.“ Sie stammt aus Charkiw in der Ostukraine, war aber schon von zu Hause ausgezogen. Sie studierte Kommunikationswissenschaften und internationales Recht in Odessa, nebenbei verdiente sie als Verkaufsmanagerin schon Geld. Ihre Eltern haben ein Haus gut 20 Kilometer außerhalb von Charkiw. Anastasias Vater wurde eingezogen. Als Bomben auf Charkiw fielen und die Jäger über ihr Haus flogen, entschied sich Mutter Lena zur Flucht. Mit dem Auto kamen sie am 9. März hier an. Freunde der Familie, die in München leben, halfen gleich. Eine Bekannte machte erst einmal ihre Zweizimmerwohnung für die fünf Ukrainerinnen frei.

„Als der Krieg anfing, mussten wir helfen, schließlich haben wir ein leer stehendes Haus“ 

Über Netzwerke von Helfer*innen kam der Kontakt mit Justine Luhm zustande. Die Münchnerin und ihr Mann hatten ein Haus in Perlach gekauft, als Geldanlage. Der Plan ist, dort neu zu bauen. Seit Oktober vergangenen Jahres stand das Haus leer, wegen Corona verzögerten sich die Abrisspläne. „Als dann der Krieg anfing, dachten wir, wir müssen helfen, schließlich haben wir ein leer stehendes Haus“, erzählt die dreifache Mutter. Die beiden Wohnungen im Haus waren allerdings in sehr schlechtem Zustand. Nicht nur stark verschmutzt, es ging auch die Heizung nicht, die Steckdosen hingen lose raus, und es gab keinerlei Möbel. Was folgte, war eine Gemeinschaftsaktion: Über das Internet organisierten die Luhms fast komplett kostenfrei gebrauchte Möbel, die sie dann selbst abholten. Freunde halfen, liehen Anhänger, die Ukrainerinnen schrubbten die Wohnung. „Ein Handwerker half kostenlos beim Ab- und Wiederaufbau der Küche, ein Installateur aus der Nachbarschaft reparierte umsonst die Heizung.“ Justines Sohn Lionel packte auch viel mit an. „Das waren krasse Osterferien“, erzählt der Zwölfjährige. „Aber es ist auch schön, was aus der Wohnung geworden ist und dass die Familie jetzt hier leben kann und ein bisschen glücklich ist.“

Gerade in den ersten Monaten des Krieges war die Hilfsbereitschaft in München enorm. Laut der Stadt München wurden alleine über die Münchner Freiwillligen bis Ende Juni mehr als 9000 private Unterkünfte vermittelt. Von der Stadt gibt es dafür finanzielle Unterstützung. Die Helfer*innen waren meist auch die Ansprechpartner*innen bei der Navigation durch den Bürokratiedschungel – eine Herausforderung . Je länger der Krieg nun dauert, umso schwieriger wird es allerdings auch für die Helfer*innen, besonders für die, die Geflüchtete in die eigene Wohnung mit aufgenommen haben. Keiner weiß, wann die Menschen in ihre Heimat zurückkehren können, und langfristig ist die Suche nach bezahlbarem Wohnraum in München für viele aussichtslos.

„Wir sind in Gedanken immer bei meinem Vater“ 

 

Auch Anastasia und ihre Familie können nicht dauerhaft in dem Haus bleiben. „Langfristig können wir uns das nicht leisten, da sitzt uns die Bank im Nacken“, sagt Justine Luhm. „Aber bis zum Frühling können sie auf jeden Fall bleiben.“ Anastasia versucht derweil, sich in München eine Perspektive aufzubauen, trotz der Sorge um den Vater. „Wir sind in Gedanken immer bei ihm“, sagt sie. So oft es geht, telefoniert sie mit ihm. Ende August konnte er für zwei Tage von Charkiw im Osten der Ukraine nach Lemberg im Westen kommen. „Wir sind hingefahren und haben ihn treffen können. Wir waren so glücklich.“

Da Anastasia so gut Deutsch kann, kann sie ihrer Familie hier sehr helfen. So übt sie mit ihrer Mutter Deutsch. Den ersten Kurs und die erste Prüfung hat die 46-Jährige Lena, die in der Ukraine als Buchhalterin arbeitet, schon hinter sich. Sie lernt weiter Deutsch, hofft aber, dass sie bald zurückkehren kann. Zum Jahreswechsel würde sie so gerne wieder zu Hause sein. Zurzeit leben in ihrem Haus nahe Charkiw Menschen, deren Wohnungen ausgebombt wurden. Anastasia kann sich eine schnelle Rückkehr kaum vorstellen. „Es sieht so schrecklich aus in Charkiw. Ich weiß gar nicht, wie das werden soll.“

Sie beginnt im Oktober an der LMU Kommunikationswissenschaften zu studieren. Auch einen Job – wieder im Verkauf – hat sie sich organisiert. „Ich möchte nicht auf das Jobcenter angewiesen ein“, sagt sie ganz klar. Bis zum Ende ihre Studiums würde sie gerne in München bleiben. Ihr Traum wäre eine eigene Wohnung, zum Beispiel ein Platz im Studierenden-Wohnheim. „Vielleicht ist es in drei Jahren, wenn ich mit dem Studium fertig bin, in Charkiw besser“, sagt sie. Und da hält sie es mit dem Grundsatz ihren Vaters. „Er ist ein so positiver Mensch und sagt immer: ,Es wird alles gut.‘“


Hier können Sie helfen

Bis Ende August zählte die Stadt München 15 545 registrierte Geflüchtete aus der Ukraine. Das sind weniger als im Juli. Es kommen aber immer noch Menschen hier an, Ende August waren es rund 80 pro Tag. Laufend stellt die Stadt auch neue Unterkünfte zu Verfügung. Wer helfen will, bekommt Unterstützung von der Stadt. WG-Zimmer für anerkannte Flüchtlinge können z. B. unter wohnen1.soz@muenchen.de angeboten werden. Weitere Infos gibt es unter: stadt.muenchen.de/infos/fluechtlingen-helfen.html

Die zentrale Hotline für Geflüchtete (auch auf Ukrainisch) und hilfswillige Bürger*innen: 089/12 69 915 100

Text: Tina Angerer
Fotos: Alexandra Beier

 
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