Helfer mit Herz

Menschen ohne Mietvertrag in der Tasche stehen vor einem harten Winter. Der Münchner Pfarrer Felix Leibrock hilft – er war einst selbst wohnungslos.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr: So heißt es in einem Gedicht von Rainer Maria Rilke. Für den überhitzten Münchner Immobilienmarkt stimmt der Satz schon lange. Mit Blick auf das Leben als Wohnungslose*r entfaltet er seine ganze Härte. Ohne Job findet man in Deutschland keine Wohnung, ohne Wohnung keinen Job. Die Zahl der Obdachlosen steigt seit Jahren. Corona hat die Situation noch einmal verschärft.

„In Corona-Zeiten werden viele Defizite der Wohnungsnotfallhilfe deutlich“

Zu Hause bleiben? Für Obdachlose unmöglich. „In Corona-Zeiten werden viele Defizite der Wohnungsnotfallhilfe deutlich“, kritisiert die Diakonie Bayern in einem Positionspapier. Beispiel Gemeinschaftsunterkünfte: Nachts müssen sich zu viele Menschen einen Raum teilen. Früher waren es etwa im Übernachtungsschutz der Stadt München bis zu zwölf Menschen, in Corona-Zeiten sind es immer noch bis zu fünf Leute.

Und wohin tagsüber? Zwar hat die Stadt jüngst den Ganztagesschutz in der Bayernkaserne verlängert – normalerweise müssen die Bewohner*innen das Gelände tagsüber verlassen –, doch viele andere Hilfsangebote haben ihre Versorgung eingeschränkt oder eingestellt. Der Grund: Sie können Hygienemaßnahmen nicht einhalten. Es fehlt an Aufwärmstuben im Corona-Winter. Nicht einmal ein Händedruck ist mehr erlaubt – oft der einzige Körperkontakt, den Menschen auf der Straße noch erleben.

„Der eigentliche Skandal ist, dass in Deutschland überhaupt Menschen auf der Straße leben müssen“

Auch Pfarrer Felix Leibrock schüttelt derzeit keine Hände. Doch er tut, was er kann. Der Leiter des Evangelischen Bildungswerks München fährt für die Obdachlosenhilfe „Schwestern und Brüder vom Heiligen Benedikt Labre“ regelmäßig Essen, Tee und Kleidung aus, schreibt Bücher über Obdachlosigkeit, hält Vorträge über den Verlust von einem Dach über dem Kopf, die damit einhergehende Scham, die Einbuße von Privatsphäre und Selbstwert.

Leibrock kennt den Zustand aus eigener Erfahrung, er hat selbst zweieinhalb Jahre ohne feste Wohnung in München gelebt. Ein halbes Jahr schlief er auf einer Notliege im Büro. „Der eigentliche Skandal ist, dass in Deutschland überhaupt Menschen auf der Straße leben müssen“, sagt der 60-Jährige.

In Bayern haben offiziellen Schätzungen zufolge mehr als 15 500 Menschen keine eigene Wohnung, in München sind es laut dem Sozialreferat der Stadt knapp 9000 Menschen. Die Zahl der eigentlichen Obdachlosen – laut Behörde solche, „die freiwillig auf der Straße leben oder keinen Anspruch auf eine Unterbringung haben“ – wird auf rund 550 Menschen geschätzt. Belastbare Zahlen fehlen, eine entsprechende Studie sei wegen der Pandemie zurückgestellt worden.

Freiwillig obdachlos? „Das ist romantisierender Schwachsinn“

Felix Leibrock hält die Zahlen für völlig untertrieben. „Ich weiß persönlich von ungefähr 100 Leuten, die dauerhaft auf der Straße leben. Wie viele wird es dann wirklich geben?“ Auch dem Klischee, dass manche Menschen „freiwillig“ auf der Straße leben, widerspricht er: „Das ist romantisierender Schwachsinn. Ich kenne keinen, auf den oder die das zutrifft.“

Wohnungslosigkeit vermeiden, damit keiner im Corona-Winter draußen frieren muss: Das wäre wohl die Lösung. Wie soll das gehen? „Mit mehr Gemeinwohl“, sagt Felix Leibrock und verweist auf Finnland als Vorbild: Dort ist die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen Jahren so deutlich gesunken wie nirgendwo sonst in Europa. Jeder Finne bekommt eine Wohnung vom Staat – ohne Voraussetzungen. „Housing First“ heißt das Konzept dahinter. 270 Millionen Euro hat der Staat für den Bau, den Ankauf und das Renovieren von Wohnungen ausgegeben. Langfristig zahle sich das Konzept aus, heißt es. Im Vergleich gebe Finnland für jede*n Obdachlose*n 15 000 Euro weniger pro Jahr aus als zuvor. „Meine Hoffnung ist, dass es hier irgendwann so läuft wie in Finnland“, sagt Felix Leibrock.

Text: Andrea Mertes

Fotos: Philipp Gülland

 
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