Allein im Haus
Der letzte Mieter: Burkhard Stolla wohnt seit sechs Jahren in einem sonst leer stehenden Haus mitten in Schwabing. Als Schreiner hat er die Wohnung vor 36 Jahren selbst ausgebaut. Der Rentner hofft, dass er das Viertel nicht verlassen muss.
Ein Sommerabend am Schwabinger Wedekindplatz, voller laut feiernder Leute – für Burkhard Stolla ist das der Alltag. „Mich stört das nicht, ich bin das gewohnt“, sagt er, obwohl er direkt über dem Platz wohnt. Er hat meistens ein Fenster offen, das raus auf die Occamstraße geht, ein Kissen liegt da, im bepflanzten Blumenkasten stehen ein Deko-Rabe und ein kleines Windrad. Wer außen vorbeigeht, sieht, dass es das einzige Fenster ist, hinter dem Leben ist. Die anderen Fenster sind trüb und schmutzig, die heruntergekommene Fassade zeugt von einer anderen Zeit. Der 70-Jährige ist der letzte Mieter in einem Haus, in dem seit sechs Jahren alle anderen Wohnungen leer stehen. 36 Jahre wohnt er hier. „Ich gehe nicht raus, ich bleibe, solange es geht“, sagt er.
Ein Museum voller Erinnerungsstücke: Seit 1988 lebt Burkhard Stolla in der Wohnung am Wedekindplatz
Als Stolla 1988 hier einzog, ging es mitnichten ruhiger zu. Der Platz unweit der Münchner Freiheit, an dem 1962 die Schwabinger Krawalle tobten, hatte Ende der 80er einen schlechten Ruf, die Gegend war heruntergekommen, die goldenen Schwabinger Zeiten schienen mal wieder vorbei. Andere trauern heute den Zeiten nach, als es noch dreckig zuging in Schwabing, als noch Behelfsbauten aus der Nachkriegszeit standen, als in der „Schwabinger 7“ und in der „Tomate“ versumpft wurde, wer das Ende des Abends nicht fand. „Es ging wild zu damals“, erinnert sich Stolla. „Kein Wochenende ohne Schlägerei und Blaulicht. Anfangs dachte ich: Wo bin ich denn da hingeraten?“
Stollas Eltern stammten aus Berlin und zogen später nach Holzkirchen im Landkreis Miesbach. Dort wohnte er in seiner Zeit als Schreinerlehrling. Dann fing er bei den Bavaria Filmstudios an, die eine eigene Schreinerei betrieben, um Filmkulissen zu bauen. „Ich war hin und weg“, sagt der Cineast. Als er anfing, half er, die Kulissen für den berühmten Film „Cabaret“ mit Weltstar Liza Minelli abzubauen, „Akte Odessa“ war der erste Film, an dem Stolla mitwirkte. War gerade kein Filmauftrag da, stellte die Firma auch Möbel für Hotels im In- und Ausland her. „Ich hatte die Luft der großen, weiten Welt geschnuppert“, erzählt Stolla. Er wohnte in München wechselnd bei Freunden und war beruflich viel unterwegs. Nach einem Hotelausbau in Florida arbeitete er einige Jahre als Hausmeister in den USA, er fuhr auch zur See als Spanisch-Übersetzer auf Kreuzfahrtschiffen. 1988 kehrte er zurück nach München, fing wieder bei der Bavaria an und ging auf Wohnungssuche: „Ich habe in der Zeitung inseriert: Junger Handwerker, vielseitig, sucht Wohnung zum Selbstausbauen.“ Er bekam viele Zuschriften und entschied sich für die Occamstraße. „Hier war im Grunde nichts. Keine Böden, keine Tapeten, keine Dusche. Die Kabel lagen in Zinkrohren auf Putz.“ Er baute alles selbst aus. Wände, Parkettboden, eine Holzdecke, die Regale, das Bett. Eigentlich sollten die Diele und die Toilette auch von der Wohnung gegenüber mitbenutzt werden – die Wohnung diente dem Eigentümer allerdings nur als Abstellkammer. So kommt Stolla insgesamt auf seine 45 Quadratmeter, warmes Wasser hat er bis heute nicht.
Um Stolla herum hat sich in den letzten Jahren viel geändert. Abrisse, Neubauten, viele Sanierungen: Der Wedekindplatz wurde neu hergerichtet – vom Obdachlosen-Treffpunkt zur Party-Piazza. Stolla ist klar, dass er mit seinem alten Mietvertrag und 193 Euro Miete hier ein absolutes Alleinstellungsmerkmal hat – so wie auch das ganze Haus wie ein Fremdkörper in der Gegend wirkt.
Vor sechs Jahren hat der neue Eigentümer, die Altschwabing Projekt GmbH, das Haus gekauft. Dann ging es sehr schnell. „Innerhalb von drei Monaten waren alle Mieter weg“, sagt Stolla. Auch ihm wurde damals eine kleine Abfindung angeboten. „Aber wie weit wäre ich damit gekommen? Außerdem wollte ich hier nie weg.“ Passiert ist seitdem de facto nichts. Inzwischen ist das Haus ein Symbol für Leerstand in München. Auch Leerstand kann lukrativ sein, wenn Investor*innen keinen Zeitdruck haben und die Bodenpreise von alleine steigen, wie es in München viele Jahre der Fall war. Theoretisch kann die Stadt gegen Leerstand vorgehen, denn das ist Zweckentfremdung und damit unzulässig. Praktisch ist es aber so, dass die Stadt nichts tun kann, wenn ein Eigentümer darlegt, dass er Sanierungen oder Umbauten plant. Das hat er hier getan – bisher wurden diese Pläne aber abgelehnt. Das Haus ist ensemblegeschützt, da müssten strenge Regeln beim Umbau beachtet werden. Der Eigentümer hat derweil auch die Stadt verklagt, im April gab es ein Urteil des Münchner Verwaltungsgerichts, doch die Streitigkeiten sind noch lange nicht zu Ende. Für die Stadt heißt das, sie kann den Eigentümer nicht drängen, die leer stehenden, derzeit unbewohnbaren Wohnungen zum Beispiel instand zu setzen und zu vermieten.
Für Stolla heißt das, es wird wohl weiter erst mal nichts passieren – für ihn ist das keine so schlechte Nachricht. Er lebt seit Jahren mit der Ungewissheit, was mit seiner Wohnung passiert. Der Mieterverein wird ihn rechtlich unterstützen, wenn sich etwas ändert. „Aber der neue Eigentümer hat bisher zum Glück nicht versucht, mich loszuwerden. Also bleibe ich.“
Wenn die Müllabfuhr kommt, dann holen sie weiter nur die Tonnen mit seinem Müll. Im Innenhof hat er einen kleinen Tisch und einen einzelnen Stuhl hingestellt und ein paar Pflanzen in Kübeln. Manchmal sitzt er da. Die weite Welt bereist der 70-Jährige nicht mehr. Er holt sie sich übers Internet ins Haus, hält so auch viele Kontakte ins Ausland. Gesundheitlich geht es ihm nicht gut, er hat Probleme mit dem Herzen, Diabetes, und er ist inzwischen auf Grundsicherung angewiesen. Schwere Sachen wie Getränke lässt er sich bringen, ansonsten kommt er noch alleine zurecht. Er erledigt seine Einkäufe, hat seine Ärzt*innen im Viertel, Menschen aus der Nachbarschaft, die er seit Jahrzehnten kennt, schauen nach ihm, fragen nach, wie es ihm geht. Was er sich wünschen würde, wenn alles möglich wäre? „Dann würde ich mir wünschen, dass saniert wird und ich danach mit meinen Sachen hier wieder einziehen und den Rest meines Lebens bleiben kann.“
Text: Tina Angerer
Fotos: Lukas Barth