Insel im Asphalt

Die Borstei ist wie ein idyllisches Dorf mitten in der Stadt. Die Menschen leben hier ohne urbane Anonymität zusammen.

Der blonde Junge rennt sofort los. „Ich zeige euch das schönste Treppenhaus.“ Der Neunjährige hat nicht nur einen angelegten Spielplatz vor der Tür, einen, an dem die Häuschen sogar von einem Kunstmaler verziert wurden. Er und seine Schwester leben mitten in einem Riesenspielplatz mit überdimensionalem Garten. Die beiden haben das Glück, in der Borstei aufzuwachsen, der denkmalgeschützten Wohnanlage in Moosach, unweit vom Dantebad. Bewahrt wurde hier nicht nur die Architektur, sondern offenbar auch das Lebensgefühl. „Das hier ist wie Bullerbü mitten in der Stadt“, nennt es Manfred Gerber. Er wohnt mit seiner Frau Susanne Heyn seit 16 Jahren hier. Über dem Ehepaar wohnt die Familie Hirtz mit ihren beiden Kindern. Nachbarschaft hat hier noch einen anderen Wert. „Unsere Kinder wissen, dass sie jederzeit bei Manfred und Susanne klingeln können, wenn etwas wäre“, sagt Daniela Hirtz. Wer mit Leuten aus der Borstei spricht, bekommt immer wieder den Satz zu hören: „Wenn man hier einmal ist, will man nie wieder weg.“ Die Menschen hier sind sich bewusst, dass sie in einem Denkmal leben. Das Konzept ist allerdings heute moderner und gefragter denn je: Hier wohnt man nicht nur, hier lebt man.

Erschaffen hat das alles der Bauunternehmer Bernhard Borst, der das Grundstück einst eigentlich erstanden hat, weil er einen neuen Lagerplatz brauchte. 1924 wurden dann die ersten Wohnungen gebaut, mit damals gehobener Ausstattung. „Der Grundgedanke für die Borstei war die Entlastung der Hausfrau“, sagte Borst. Ist die Frau entlastet, hat sie mehr Zeit für ihre Kinder, das war Borsts Ideal. So konnten die Frauen in Zeiten, als es noch keine Waschmaschinen in den Wohnungen gab, ihre Wäsche in die Borsteieigene Wäscherei bringen.

„Unsere Kinder machen einfach die Tür auf und gehen raus“

Es gab auch einen Staubsauger- und Dienstbotenverleih und Abstellplätze für Kinderwagen. Noch heute gibt es angestellte Handwerker, die sich um die Anlage kümmern. „Ich erkannte die Nachteile des Einfamilienhauses, wusste aber auch um die Trostlosigkeit der Mietskasernen in der Stadt“, sagte Borst später. Und auch wenn heute eine Zentralheizung nicht mehr dem Mittelstand vorbehalten ist, so ist die Borstei doch immer noch Luxus – gerade für Familien. „Unsere Kinder machen einfach die Tür auf und gehen raus“, sagt Jens Hirtz. Sein Sohn ergänzt: „Man muss sich nicht verabreden, man trifft immer jemanden.“ Die Kinder haben Platz zum Toben und direkt auf dem Nebengrundstück auch noch einen Fußballplatz. Auf dem Gelände gibt es auch eine städtische Kita. Borst selbst hat immer von seiner harten Jugend erzählt, er veranstaltete deswegen immer auch Feste für Kinder. Auch das ist bis heute erhalten.

An Ostern werden gemeinschaftlich Eier gesucht, im Fasching gibt es einen Umzug, im Sommer ein großes Fest. Die Veranstaltungen sind bei 2.500 Bewohnern keine kleinen Feiern. Deswegen hat die Mietergemeinschaft Arbeitskreise eingerichtet, in den sich die Mieter*innen engagieren können. „Wie wir hier die Nachbarschaft pflegen, ist schon einzigartig“, sagt Bewohner Manfred Gerber. Als junger Mann hat er die Borstei entdeckt – als Landespfleger hatte er hier Vorgärten an der Pickelstraße mitgestaltet. Jahre später hat er sich mit seiner Frau Susanne hier beworben. Und Glück gehabt. Gerber engagiert sich auch im Arbeitskreis Nachbarschaftshilfe, an den sich Bewohner wenden können, wenn sie zum Beispiel krank sind und nicht einkaufen können.

Konzerte im Hof und Hilfe bei Besorgungen

Vieles läuft aber auch ohne den extra Arbeitskreis. Gerade in der Coronazeit hat sich gezeigt, wie sehr die Borsteiler aufeinander achten. „Während des ersten Lockdowns haben wir täglich um 19 Uhr die Fenster aufgemacht und gemeinsam gesungen“, erzählt Manfred Gerber. „Das hat richtig gutgetan.“ Später haben die Mieter*innen auch Konzerte im Hof organisiert. Und wenn jemand Hilfe bei Besorgungen brauchte, war das kein Problem. „Als wir als Familie in Quarantäne waren, konnten wir uns kaum retten vor Hilfsangeboten“, sagt Daniela Hirtz. Es ist eben wie in einem Dorf, so beschreiben es die Borsteiler. Man kennt viele Leute, und es fällt auf, wenn jemand längere Zeit nicht auftaucht.

Die Mieten in der Borstei sind fair – die Spanne für die Bewohner ist recht groß. Wer viele Jahrzehnte hier wohnt, zahlt deutlich weniger als die jungen Familien, die in sanierte Wohnungen eingezogen sind. Auf dem freien Markt landen die Wohnungen nicht. Bei der Verwaltung gibt es eine Warteliste. Es gibt einige kleinere Wohnungen mit rund 60 Quadratmetern, sehr viele haben rund 100 Quadratmeter, manche sind noch größer. Die Erben von Bernhard Borst erhalten das Lebenswerk des Gründers.

„Mal ehrlich: Was gibt es Schöneres, als hier im Rosengarten auf einer Bank zu sitzen?“

Von unbezahlbarem Wert für die Bewohnerinnen und Bewohner sind die Gärten. Im Grunde sind die Wohnungen, wie Borst es beschrieb, um die Gärten herumgebaut. Nur rund 20 Prozent der Fläche sind überbaut. „Insel im Asphalt“ nennt der Liedermacher Michael Bohlmann die Borstei, er hat über seine Heimat ein ganzes Album gemacht, das „A kloans Paradies“ heißt. Und tatsächlich ist die Borstei nicht nur eine Insel mit Natur, sondern auch mit viel Kultur. Mäzen Borst hatte den Grundstein gelegt, und noch heute gibt es viele Kulturveranstaltungen, Lesungen, Ausstellungen, Konzerte. Die Gärten mit ihren Skulpturen und Reliefs sind auch bei Stadtführern beliebt – da schlendern dann Touristen durch die Borstei und lassen ein bisschen Geld in der kleinen Ladenstraße oder im Borsteieigenen Café. Line Borst, eine der Töchter des Gründers, die 2017 starb, hat auf dem Gelände auch ein Museum zur Geschichte der Anlage aufgebaut. Da kann man auch nachlesen, was Bernhard Borst seinen Mieter*innen empfahl: „Lassen Sie den Tag ausklingen durch einen kleinen Spaziergang oder Aufenthalt in den Gärten.“ Daran hält sich Manfred Gerber, der inzwischen in Rente ist, ausgiebig. „Mal ehrlich: Was gibt es Schöneres, als hier im Rosengarten auf einer Bank zu sitzen?“

Text: Tina Angerer
Fotos: Lukas Barth-Tuttas

 
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